"Tradition heißt nicht die Asche aufheben, sondern die Flamme weiterreichen"

(Ricarda Huch)

Knoten

Wie kommt jemand dazu, Volkslieder zu singen? Und noch dazu in Mundart? Wer will das hören? Ist das nicht was für Senioren-Sendungen im Fernsehen?

In meiner Kindheit wurde bei mir zu Hause noch viel gesungen. Freddy Quinns „Junge komm bald wieder“ trällerte ich als
FünfJähriger, und Heino war damals noch kein Sänger, der automatisch zum Fernsehkanalwechsel geführt hat (es gab auch
nur zwei, und zum Umschalten hätte man aufstehen müssen).

Das waren Schlager oder Volksmusik, Folklore nannte das keiner. Eher die Lieder von Hannes Wader oder Reinhard Mey – kritischer, realistischer Protest gegen den Muff in den Talaren. Das war Musik in einer Tradition, die die Deutschen fast verloren hatten, aber andere Völker sehr lebendig hielten. Über Bob Dylan, Joan Baez und Peter, Paul & Mary stieß ich die Tür auf zu einem unerschöpflichen Liedschatz, der mich seitdem nicht mehr loslässt: Irish Folk. In gefühlvollen Balladen und fetzigen Rhythmen verstehen es die Iren (und natürlich auch die Schotten, etc.), etwas über sich, ihre Geschichte, ihr Leben und Lieben, Krieg und Leid, Laster und Freude zu erzählen. Das ist Folklore. Und die findet man auch bei uns, allerdings nur nach etwas mühsamerem Suchen, weil viele Lieder bereits in Vergessenheit geraten sind. Liederjan und Zupfgeigenhansel sei Dank, dass das Feuer nicht ganz erloschen ist.

Diese Glut will ich wieder neu entfachen! Folklore soll Spaß machen, unterhalten, aber auch zum Nachdenken anregen. Und sie soll weitergereicht werden! Das bedeutet, sich unserer eigenen Vergangenheit, den Lebensumständen, Brauchtum und Sichtweisen unserer Eltern und Großeltern zu nähern. Es zu wagen, dunkle Seiten deutscher Geschichte zu betrachten und den Überlebenskampf des einfachen, rechtschaffenen Menschen zu beleuchten. Und es bedeutet für mich auch, neue Lieder zu schreiben, weil Historisches sich in Musiktexten sehr appetitlich einpacken lässt, ohne schulmeisterlich zu wirken. Um dieses neue Feuer aber an unsere Kinder weiter zu geben, müssen wir die kommerzialisierten Hörgewohnheiten aus Volksmusikhitparaden verlassen und Neues wagen, zumal wir bei unseren Kindern gegen die kommerzialisierten Hörgewohnheiten aus den „American Charts“ ankämpfen.

Vielleicht gelingt es, mit „überraschenden“ Melodien aus der keltischen Folklore und mit „respektlosen“ Texten in Odenwälder Mundart ein neues altes Gefühl für musikalische Heimat zu erzeugen. Wenn meine Lieder auch nur einen kleinen Ausschnitt unserer heutigen Zeit in die Zukunft tragen, ist das schon ein Erfolg.
Jürgen Poth